Wenn die Schlange wacht: Die Geschichte des Brudergroßes
Es heißt, weit draußen auf einem Meer, das auf keiner königlichen Karte verzeichnet ist, liege ein Hafen, den nur wenige jemals mit eigenen Augen gesehen haben: Port Narrow.
Er ist weder groß noch prächtig – doch für jene, die dort Zuflucht finden, ist er wertvoller als Gold. Zwischen windschiefen Fachwerkhäusern, den knarrenden Stegen und den Fässern voller verbotener Waren pulsiert eine ganz eigene Welt. Eine Welt, die den Gesetzen des Königs trotzt und stattdessen nur einem einzigen Mann folgt: Captain Narrowbelt.

Captain Narrowbelt ist der Herr über den Hafen – und über eine Bruderschaft, die ihren Namen nur im Flüsterton weitergibt: die P.N.X. – die Port Narrow Exekutive.
Hundert Männer (und hin und wieder eine besonders furchtlose Frau) schwören dort einen Eid, der sie enger bindet als Blut. Ihr Ziel ist einfach: den Hafen und seine Bewohner um jeden Preis zu schützen.
Denn Port Narrow ist mehr als ein Ort. Es ist ein Versteck für Vertriebenen, ein Zufluchtsort für Händler, Piraten, Glücksritter – und ein Stachel im Fleisch der königlichen Flotte.

Die Legende von der Schlange
Lange bevor Captain Narrowbelt den Hafen übernahm, erzählten die Alten eine Geschichte, die jeder Neuankömmling früher oder später zu hören bekam.
Man sagte, in den Felsen, die Port Narrow vor Sturm und Feind schützen, lebe seit Jahrhunderten eine Schlange.
Keine gewöhnliche.
Sie soll den ersten Bewohner des Hafens vor einer Meuterei gewarnt haben, indem sie ihn im Schlaf an der Stelle hinter dem rechten Ohr berührte – dort, wo man einen Biss spürt, bevor der Schmerz kommt.
Seit jener Nacht galt die Schlange als Wächterin des Hafens.
Und jeder Mann, der versucht hatte, Port Narrow ohne Erlaubnis zu finden, wurde später tot aufgefunden – mit genau jenem Bissmal am Hals.
Natürlich wussten alle Brüder der P.N.X., dass es vermutlich nicht die Schlange war, sondern die Männer selbst, die allzu neugierige Fremde „verschwinden“ ließen. Aber Geschichten haben Macht, und diese war ein Teil des Hafens geworden.
Der Ursprung des geheimen Grußes
Der geheime Gruß der P.N.X. entstand, so heißt es, in einer Nacht, die selbst für Port Narrow ungewöhnlich finster war.
Die königliche Flotte war ungewöhnlich nah gekommen.
Zu nah.
Die Bruderschaft wusste: Wenn nur ein einziges königliches Schiff den Weg zum Hafen fand, wäre alles verloren – die Häuser, die Schiffe, die Menschen, ja sogar die Geschichten.

In jener Nacht rief Captain Narrowbelt seine Männer in die alte Lagerhalle am Südende des Hafens.
Dort, im schwachen Licht der Öllampen, sprach er von einer Idee:
„Wenn wir draußen unterwegs sind, müssen wir wissen, wer von uns ist… und wer uns verraten würde. Wir brauchen ein Zeichen, das nur die Brüder verstehen.“
Einer der ältesten Männer der P.N.X., ein wettergegerbter Kauz namens Malrick, antwortete:
„Dann nehmen wir das Zeichen der Schlange, Captain. Jeder Bruder weiß, wo sie beißt.“
Er hob zwei Finger – Zeige- und Mittelfinger – und tippte sich dreimal hinter sein rechtes Ohr, genau an die Stelle des legendären Bisses.
Ein Murmeln ging durch die Halle.
Es fühlte sich sofort richtig an.
Doch ein Zeichen allein reichte dem Captain nicht.
Er wollte, dass jeder Gruß nicht nur bestätigt, wer man ist, sondern auch wofür man steht.
Also sprach er die Worte, die seit jener Nacht nicht mehr aus der Welt von Port Narrow wegzudenken sind:
„Wer dieses Zeichen gibt, soll sagen: Die Schlange wacht!
Und wer antwortet, soll bezeugen, was uns eint.“
Malrick trat vor und antwortete – nicht lauter als ein Flüstern, aber so klar, dass alle es hörten:
„Über den Hafen und die Kameradschaft.“
Es wurde still.
Sehr still.
Dann nickte Captain Narrowbelt, und die P.N.X. antwortete im Chor. Damit war der Gruß geboren.

Warum gerade diese Worte?
Die Schlange – ob wahre Kreatur oder nur Legende – war für die Männer das Symbol für Wachsamkeit und Geheimhaltung.
Wenn ein Bruder flüstert:
„Die Schlange wacht!“
bedeutet es so viel wie:
Bist du einer von uns? Siehst du, was ich sehe? Weißt du, was geschützt werden muss?
Und die Antwort:
„Über den Hafen und die Kameradschaft“
ist ein Schwur.
Ein Eid darauf, dass Port Narrow immer Vorrang hat – und dass kein Bruder jemals alleine steht.
Kein Verrat.
Kein Zögern.
Keine Angst.
Seit dieser Nacht
Wenn zwei Brüder der P.N.X. sich irgendwo auf den Weltmeeren begegnen – sei es in einer schmutzigen Hafenkneipe, in der Menge eines Marktplatzes oder an Deck eines Schiffes, das nicht ihnen gehört – dann geschieht es fast unsichtbar:
Ein kaum merkbarer Griff hinter das rechte Ohr.
Ein leises Flüstern:
„Die Schlange wacht.“
Und die Antwort, die wie eine unsichtbare Brücke zwischen den beiden steht:
„Über den Hafen und die Kameradschaft.“
Fremde würden nie darauf achten.
Aber für die Brüder ist es wie eine unsichtbare Tür, die sich öffnet, ein heimliches Glänzen in den Augen, ein Versprechen, das in jeder Silbe mitschwingt.
Und so lebt der Gruß weiter –
solange Port Narrow verborgen bleibt,
solange die Kameradschaft hält,
solange die Schlange wacht.






